Lebensmodell versus Geschäftsmodell

Juergen H. Koch, koch.management

1. Problemfelder der Gesellschaft, Unternehmen und Institutionen

Soziale Netzwerke (Facebook, Twitter, etc.), Unternehmen, Institutionen und Leader stehen in der Kritik, insbesondere wegen des Verlustes an Vertrauen (lt. Edelman Trust Barometer)!

 Populisten (Trump, Baldini, Urban, etc.) – vor allem am rechten Rand der Gesellschaft – fördern durch „Fake News“ Krisen in Demokratien und versuchen Wahlen zu manipulieren!

Neue Technologien (Digitalisierung, Industrie 4.0, Internet der Dinge, etc.) befördern die globale Wirtschaft und die Marktmacht von Konzernen, aber auch das Ungleichgewicht in der Gesellschaft!

Informationstechnologie: Digitale Demokratie versus Datendiktatur (Big Data, Big Nudging), kollektive Intelligenz versus künstliche Intelligenz (Automatisierung der Gesellschaft); diese Gegensätze zeigen die Probleme auf!

Globale Konzerne (Amazon, Google, Facebook, etc.) stehen wegen ihres Geschäftsmodelle in der Kritik, da personenbezogene Daten nahezu unbegrenzt ausgebeutet werden; die soziale und gesellschaftliche Verantwortung der Konzerne wird unzulänglich wahrgenommen!

Staaten, globale Banken und Finanzinvestoren (USA, China, Russland, BlackRock, etc.) verschaffen sich die Rechte zur Ausbeutung (oder unterstützen die Ausbeutung) von Rohstoffen, insbesondere in Entwicklungsländern, ohne dass die Bevölkerung hinreichend davon profitieren kann – auch wegen fehlender demokratischer Strukturen!

Klimaziele werden von Politik und Wirtschaft vorgegeben, aber offensichtlich nicht in angemessen Zeiträumen erreicht (entsprechend dem Erkenntnisstand der Wissenschaft), wodurch Vertrauen schwindet und Umsetzungskompetenz der Politik infrage gestellt wird!

Neue Entwicklungen – insbesondere aus der Forschung über Komplexität und Dynamik unserer globalen Welt – überfordern große Teile der Gesellschaft, die zu einem labilen Gleichgewicht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft führen!

Für diese Problemfelder sind Problemlösungen anzustreben, die einem grundlegenden philosophisch, kultureller und wissenschaftlicher Ansatz folgen, der den gesellschaftlichen, d.h. sozialen, ökologischen, politischen und demokratischen, Standards entspricht, unter Berücksichtigung des Standes interdisziplinärer Forschung. In diesen Problemlösungen sollten materialistisch – mechanistisch ausgerichtete Weltsichten und Denkmuster sowie wirtschaftliche Interessen nicht mehr absolute Priorität haben.

Anhand des Beispiels „Lebensmodell versus Geschäftsmodell“ soll eine Problemlösung durch Paradigmenwechsel vorgestellt werden.

2. Zentrale Begriffe, Theorien und Prinzipien

Paradigma und Paradigmenwechsel

Ein Paradigma ist eine allgemeine Theorie und ein Denkmuster, das innerhalb weiter Kreise der Wissenschaft vertreten wird (als Stand der Forschung) und die Sichtweise in einer Disziplin zeitweise stark dominiert; es ist auch die Gesamtheit aller Grundauffassungen über Gegenstandsbereich und anerkannten Verfahren, die in einer Disziplin in einem Zeitabschnitt vorherrschen. Paradigmenwechsel ist ein von T. S. Kuhn geprägter Begriff, für den erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Wandel, der die bisherigen Theorien bzw. Weltanschauungen (altes Paradigma) ablöst.

Altes und neues Paradigma werden auch als bipolar aufgefasst, d.h. als theoretische Konstrukte, die sich wie zwei Pole gegenüberstehen; sie eignen sich als Vergleichsmaßstab und zur Bestimmung einer eigenen Position (von Individuen, Unternehmen, Institutionen und Gesellschaft) zwischen diesen Polen. Bipolare Positionen sind von der Bipolarität zu unterscheiden, die gemeinhin als psychologisches Phänomen angesehen wird, das schwer zu überwinden ist.

Systeme der realen Welt, wie Gesellschaften, Unternehmen und Institutionen sind in der Regel zwischen den Polen einzuordnen.

Der Paradigmenwechsel erzeugt einen Wandel von einer rationalistischen zu einer ganzheitlichen Weltsicht und verändert das Welt- und Menschenbild, die Blickwinkel sowie Denkmuster und kann individuell Bewusstseinsveränderungen hervorrufen.

Anerkannte Beispiele für Paradigmenwechsel sind:

  • Quantenmechanik versus klassische Mechanik (nach Newton),
  • (evolutionäre) Selbstorganisation versus Fremdorganisation (konstruierte Organisation),
  • Komplexitätsökonomie versus neoklassische Wirtschaftstheorie.

Mit dem Paradigmenwechsel ist eine qualitative Veränderung (ein qualitativer Wandel) verbunden, mit der ein höheres Erkenntnisniveau (eine höhere menschliche Bewusstseinsstufe) erreicht werden kann.

Evolution als übergeordnetes Paradigma und „Welterklärung“

Voraussetzung für die realistische Einschätzung und Gestaltung unserer Zukunft (der Welt) ist ein philosophisch, kulturell und wissenschaftlich anerkanntes Welt- und Menschenbild.

Als Ausgangspunkt für derartige Problemstellungen bietet sich eine verallgemeinerte Evolutionstheorie an (vgl. Gerhard Schurz).

Algorithmus der Evolution und seine drei Module

Der Algorithmus der Evolution wird bestimmt durch

  1. Reproduktion, die eine neue Generation eines evolutionären Systems mit den gleichen, vererbbaren Merkmalen entstehen lässt.
  2. Variation, die bei der Reproduktion vererbbarer Merkmale in nicht vorgegebener Weise verändert.
  3. Selektion, die unter gegebenen Umgebungsbedingungen bestimmte Varianten bevorzugt oder benachteiligt, so dass diese sich schneller oder langsamer reproduzieren können als andere; dabei bedeutet Selektion zunächst nur eine Verschiebung der Häufigkeiten, mit der unterschiedliche Varianten in einer Population vertreten sind. Erst wenn die Umgebungsbedingungen das Anwachsen der Gesamtpopulation begrenzen, führt Selektion auch zur Eliminierung der benachteiligten Varianten.

Durch rekursive Wiederholung dieser drei Schritte können aus einfachen Grundelementen hochgradig komplexe Strukturen (komplexe Systeme) entstehen.

Die gegenstandsneutrale verallgemeinerte Darstellung dieses Prozesses gestattet ihre Anwendung auf beliebige sich selbst reproduzierende Systeme, z.B. in Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, technischen (technologischen) Wissenschaften und Wirtschaftswissenschaften.

Die Evolution ist ein gerichteter Prozess, dessen Richtung wird bestimmt von den Selektionsbedingungen der Umgebung. Mit den Änderungen der Selektionsbedingungen entstehen Verzweigungen. Die Evolutionsfähigkeit (z.B. als Anpassungsfähigkeit) und Evolutionsgeschwindigkeit (z.B. als Anpassungsgeschwindigkeit) wird dabei von der Änderungsgeschwindigkeit der Umgebungsbedingungen (z.B. der Änderungsgeschwindigkeit der Umwelt) bestimmt.

Die Erkenntnisse aus der Evolutionstheorie werden zunehmend als „Welterklärung“ aufgefasst und daraus resultierend Evolutionsprozesse, z.B. für Qualität, Gesundheit, Sicherheit, auch als Veränderung kognitiver Fähigkeiten des Menschen, (gedanklich) konstruiert.

Systeme in der Natur, der Realität und des Denkens

Systeme sind stark verknüpfte Teile der Welt, die zu ihrer Umgebung in vergleichsweise geringere Abhängigkeit stehen. Aufgrund dieser Tatsache besitzen Systeme eine gewisse Identität in der Zeit, durch die sie von ihrer Umgebung abgrenzbar sind.

Die Gesellschaft, Unternehmen und Institutionen werden als sich selbst reproduzierende, offene adaptive Systeme mit kognitiven Fähigkeiten aufgefasst.

Sich selbst reproduzierende Systeme ergeben sich durch (evolutionäre) Reproduktion, Variation und Selektion.

Als adaptiv wird in der Evolution (Biologie, Kybernetik, etc.) die Fähigkeit von Organismen und sich selbst reproduzierenden Systemen bezeichnet, sich an veränderte Umweltbedingungen aktiv anzupassen.

Evolutionsfähig sind nur offene Systeme, weil sie zur Reproduktion Stoffe und Energie aufnehmen müssen. Geschlossene Systeme sind deshalb weder in der Natur noch in der Wirtschaft überlebensfähig.

Gesellschaftlich akzeptabel ist ein System auf Dauer nur, wenn deren Nachhaltigkeit evaluiert, die demokratischen Grundregeln nachweislich eingehalten und soziale und gesellschaftliche Verantwortung gemeinschaftlich getragen werden.

Ganzheitliche Ansätze

Ganzheitliche (systemtheoretische, komplexitätstheoretische, evolutionstheoretische, integrative, multikausale, nicht lineare)1 Ansätze berücksichtigen unterschiedliche Sichtweisen (Perspektiven), die sich an natürlichen (ökologischen, sozialen, gesellschaftlichen) und ökonomischen Werten orientieren, und akzeptieren (evolutionäre) Adaption und Komplexität als real vorhanden, die in  Lösungen einbinden werden. Diese Sichtweisen berücksichtigen grundlegende philosophische, kulturelle und wissenschaftliche Aspekte sowie den Stand der interdisziplinären Forschung, auch komplexen Systeme. Rationale Entscheidungen werden in diesem Kontext bei Unsicherheit und Komplexität getroffen.

Revolutionäre und disruptive Aspekte sowie Agilität können methodisch berücksichtigt werden und ihre innovativen Kräfte entfalten.

Materialistische Ansätze

Bei materialistischen (reduktionistischen, mechanistischen, rationalistischen, deterministischen, monokausalen, linearen)1 Ansätzen werden materielle und natürliche Werte auf einer Ebene (der materiellen) gestellt, als gleichwertig angesehen und entsprechend der klassischen Mechanik (nach dem mechanistischen Weltbild von Newton) versucht, mechanistische Lösungen herbeizuführen; dabei stehen wirtschaftliche Interessen, d.h. das Geschäftsmodell, im Vordergrund (zentrale Bezugsperson ist der „homo oeconomicus“). Revolutionäre und disruptive Aspekte sowie Agilität werden häufig methodisch – wegen ihres innovativen Potentials – berücksichtigt. Evolutionäre und systemische Aspekte sind stichwortartig erwähnt, bleiben aber häufig inhaltsleer. Diese Systeme werden in reduktionistischer Weise durchgehend als einfach und kompliziert aufgefasst. In diesem Kontext wird von rationalen Entscheidungen bei Sicherheit ausgegangen.

1 Die in Klammern genannten Begriffe sind in enger Verknüpfung stehende Akronyme; sie deuten auf eine gleiche Denk- und Handlungsrichtung hin.

Anwendung der Ansätze

Entscheidungskriterien für die Anwendung der Ansätze sind vorrangig „Realitätseinschätzungen“ der Akteure in Gesellschaft, Unternehmen oder Institution. Ganzheitliche und materialistische Ansätze werden häufig vermischt, wobei derzeit überwiegend materialistische Ansätze bevorzugt werden, da sie sich – so die Einschätzungen der Akteure – als Geschäftsmodell eignen, z.B. im Mainstream und Hypes der Digitalisierung.

Revolution, Disruption, Agilität und künstliche Intelligenz

Diese Begriffe beschreiben den derzeitigen Mainstream der Digitalisierung, als eine hochaktuelle    revolutionäre und disruptive Technologie, und sie weisen den innovativen Charakter der Digitalisierung aus. Der Digitalisierung steht z.B. die Biotechnologie gegenüber, die einen evolutionären Charakter aufweist und das Potential aufweist, die Digitalisierung abzulösen, zu begrenzen oder zu überholen. Es herrscht das Motto vor „von der Natur lernen“ und kann sich damit langfristig positiv (eben evolutionär) auswirken, z.B. im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung. Die Digitalisierung zielt mehr auf kurzfristige quantitative Lösungen, entsprechend den dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen, jedoch häufig, ohne die Ambivalenz von revolutionären und disruptiven Entwicklungen hinreichend zu berücksichtigen, wie die o.g. Problemfelder aufzeigen.

Die Ambivalenz revolutionärer Entwicklungen besteht z.B. darin, dass sich die Programmierung von Software in Richtung Programmierung von Menschen entwickelt (Künstliche Intelligenz, Big Nudging). Typische Aussagen der Digitalwirtschaft, wie „digital first“ und – erweitert – des amerikanischen Präsidenten „america first“ sind auch nicht hilfreich, da sie offensichtlich Macht- und Wirtschaftsinteressen in den Vordergrund stellen.

Die Lösungen der Zukunft liegen wohl eher im Bereich kollektiver Intelligenz (als ein evolutionäres Phänomen); Citizen Science, Crowd Sourcing und Online-Diskussionsplattformen sind daher eminent wichtige neue Ansätze, um mehr Wissen, Ideen und Ressourcen nutzbar zu machen. (aus: IT-Revolution: Digitale Demokratie statt Datendiktatur, Spektrum.de vom 28.05.2019).

3.  Lebensmodell versus Geschäftsmodell

Problemlösungen bei Geschäften in Wirtschaft und Technik gehen allgemein vom klassischen (oder neoliberalen) Geschäftsmodellen aus; dies gilt z.B. auch in den Bereichen der digitalen Transformation, Industrie 4.0, Internet der Dinge und Globalisierung. Es werden zwar die klassischen Begriffe, wie z.B. Ganzheitlichkeit, Integration, Vision, Strategie, Leitkonzept und Leitidee genannt, die aber inhaltsleer bleiben, oder als Aufgabe des Anwenders selbst, oder weiterer Anbieter gesehen werden. Wichtig erscheinen den Anbietern im Mainstream hingegen Aspekte der Revolution, Disruption, Agilität sowie Künstliche Intelligenz; insbesondere werden sie als Lösungen für Probleme gesehen, hinter denen ein Geschäftsmodell steht.

Das Lebensmodell (auch Überlebensmodell genannt) ist als ein erweitertes Geschäftsmodell aufzufassen, das evolutionstheoretisch, systemtheoretisch und komplexitätstheoretisch hinterlegt ist und den Anspruch eines philosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Ansatzes erhebt, der sich am Stand der interdisziplinären Forschung orientiert und geeignet ist, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen.

Das Lebensmodel beschreibt das „Überleben“ in Zeiten des Wandels. Es setzt voraus, dass anthropologisch bedingte Verhaltensmuster der Grund sind, warum Menschen in ihrer Abwehrhaltung (das Gehirn ist ein evolutionär geprägtes „Überlebensorgan“) gegen jede Art von Wandel sind (als Widerstand gegen Änderungen, die Ängste hervorrufen). Mit dem genetisch geprägten „Willen zur Anpassung“ („Der Fitteste überlebt“) kann der Wandel auch als Chance begriffen werden. Es geht letztlich um Anpassungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit von Akteuren in einem unsicheren und komplexen Umfeld.

Grundlegendes Ziel des Menschen ist es – im Denken und Handeln – ein natürliches Maß im Einklang mit der Natur zu finden, um letztlich langfristig (über Generationen hinweg) zu überleben. Insofern liegt eine evolutionäre, d.h. biologische und kulturelle Adaption von Gruppen – bis hin zu globalen Gesellschaften – vor. Die Entwicklung orientiert an den realen Wandel unserer Zeit, der von unserer Umwelt vorgegeben wird und an dem wir uns anpassen müssen (nicht umgekehrt). Natürliche Anpassung (Adaption) des Lebendigen sichert letztlich das Überleben von Menschen und Natur in Vielfalt (Biodiversität).

Damit die Unterschiede von „Lebensmodell versus Geschäftsmodell“ deutlich werden, sind im Folgenden zwei Beispielen aufgeführt.

Beispiel 1: Komplexität (Chaos und Ordnung) versus Sicherheit (und Ordnung)

Komplexität

Komplexität ist die Gesamtheit aller voneinander abhängigen Merkmale und Elemente, die in einem vielfältigen aber ganzheitlichen Beziehungsgefüge (dem System) stehen. Unter Komplexität wird auch die Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten der Elemente und die Veränderlichkeit der Wirkungsverläufe verstanden.

Die Anerkennung von Komplexität als Realität in Gesellschaft, Unternehmen und Institutionen ist Grundvoraussetzung für eine Lösung von Problemen. Allerdings sind für ein umfassendes Verständnis weiterer Begriffe heranzuziehen.

Chaos

Chaos ist die Verhaltensweise deterministischer, nicht linearer dynamischer Systeme, bei der irreguläre, aperiodische Zeitpfade der Systemvariablen erzeugt werden, die z.T. an Zufallsprozesse erinnern. Chaotische Systeme reagieren extrem sensitiv auf Änderungen der Anfangs- und Randbedingungen, wodurch die Möglichkeiten, das Systemverhalten zu prognostizieren, zumindest stark eingeschränkt sind. Die Möglichkeit des Entstehens chaotischer Dynamik ist sowohl in der Wirtschaftstheorie als auch in der Ökologie nachgewiesen (Chaos-Theorie).

Ordnung

Ordnung ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung und Beschreibung eines Systems, dessen Struktur oder Hierarchie. Ordnung ist immer von der Wahrnehmung der ein System beobachtenden Person (dem Akteur) abhängig. Sie zeigt sich in belebten Systemen in einer wahrnehmbar koordinierten Funktionsweise der Systemelemente.

Sicherheit

Entscheidungssituation, in der Entscheider das Ergebnis einer Aktion sicher vorhersagen kann.

Sicherheit und Ordnung, als verknüpfte Begriffe, werden häufig in politischen und gesellschaftlichen Kontext verwendet und gelten als unumstößliche „Grundregel“. Hierbei wird verkannt, dass die Sicherheit und Ordnung regelmäßig von „Autoritäten“ vorgegeben werden, obwohl allgemein anerkannt wird, dass in der Realität Komplexität vorherrscht, die im Chaos statt in Ordnung enden kann. Statt von „Sicherheit und Ordnung“ auszugehen, oder sie zu erzwingen, sollten „Komplexität und Chaos“ als reale Größen akzeptiert werden und davon ausgehend intelligente Strategien entwickelt und rationale Entscheidungen bei Unsicherheit herbeigeführt werden.

Unsicherheit

Unsicherheit wird unterschieden in Unsicherheit i.e.S. (auch: Ungewissheit) und Risiko (Begriff Risiko siehe unten). Bei Unsicherheit i.e.S. sind keine Eintrittswahrscheinlichkeiten verfügbar.

Der Begriff Unsicherheit gewinnt im Zusammenhang mit Komplexität und einem veränderten Realitätsverständnis an Bedeutung.

Selbstorganisation

Unter Selbstorganisation wird das Entstehen und die Erhaltung von Ordnung aus dem System selbst heraus verstanden. Maßgebliche Anstöße für das Konzept der Selbstorganisation kamen aus den Naturwissenschaften. In der soziologischen Theorie wird vor allem die Systemtheorie mit Selbstorganisation assoziiert. In den Wirtschaftswissenschaften sind es vor allem die am Markt orientierten Konzepte der „spontanen Ordnung“.

Selbstorganisation wird mittlerweile auch in Technik und Wirtschaft als wesentliches Element zur kontinuierlichen (evolutionären) Verbesserung der Organisation angesehen. Wegen Ihrer Komplexität, die nicht unmittelbar zu erkennbaren Verbesserungen führt, werden häufig revolutionäre Aktionen vorgezogen. Selbstorganisation setzt Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft der Akteure voraus.

Komplexität versus Sicherheit (Bestimmtheit)

Komplexität ist eine Eigenschaft, die allgemein den ganzheitlichen (adaptiven) Systemen zugeordnet wird, die imstande sind, sich an ihre Umgebung anzupassen. Im Gegensatz dazu wird Sicherheit mehr den hierarchischen Systemen zugeordnet, die Entscheidungen (top-down) als sicher vorhersagbar ansehen.

Entscheidungen im Kontext mit komplexen Systemen erfordern ein hohes Maß an Wissen über multikausale Zusammenhänge der Systemelemente (siehe Komplexitätstheorie, Chaostheorie, Vernetzung, Heuristiken) und ggfls. die Fähigkeit, Komplexität auf wenige Merkmale und Muster zu reduzieren (Komplexitätsreduktion). Entscheidungen sind im Kontext der Komplexität nur bei Unsicherheit (Risiko und Ungewissheit) möglich.

Komplexe Problemlösungen haben den Vorteil, dass sie häufig als ein „Qualitätssprung“ empfunden werden (z.B. die Entwicklung der klassischen Mechanik hin zur Quantenmechanik).

Beispiel 2: Resilienz und Robustheit versus Risiko und Sicherheit

Resilienz (Soziologie)

Der Begriff der Resilienz bezeichnet in der neueren Soziologie die Fähigkeit von Gesellschaften, externe Störungen zu verkraften, ohne dass sich ihre wesentlichen Systemfunktionen ändern. Zudem wird Resilienz als Heuristik zur Analyse nichtlinearer sozialer und sozio-historischer Prozesse genutzt.

Im Gesellschaftsdiskurs hat sich „Resilienz“ vor allem als Gegen- bzw. Komplementärbegriff zur „Vulnerabilität“ (Verwundbarkeit) etabliert. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Widerstands- und Regenerationsfähigkeit von Gesellschaften angesichts komplexer und zunehmend unvorhersehbarer, auch von Menschen verursachter Risiken. Dabei wird davon ausgegangen, dass Gesellschaften solche Risiken nicht nur bewältigen, sondern auch aus ihnen lernen, sich an zukünftige Herausforderungen anpassen und sich so transformieren können.

Resilienz wird dabei ähnlich verwendet wie in der Ökosystemforschung und zunehmend auch in den Ingenieurwissenschaften und der politischen Risikoforschung („Resilienzpolitik“). Er ist damit. wie auch sein Gegenbegriff Vulnerabilität, ein Beispiel für die Ideenwanderung (travels of ideas) von Leitideen zum Funktionieren komplexer Systeme über disziplinäre Grenzen hinweg.

Robustheit

Der Begriff Robustheit bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, Veränderungen ohne Anpassung seiner anfänglich stabilen Struktur standzuhalten. Meist ist es sinnvoll anzugeben, wogegen das System robust ist (z. B. gegen Umweltveränderungen oder gegen Fehlverhalten).

Risiko

Risikowird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich definiert. Die Entscheidungstheorie differenziert das Verhalten eines Entscheiders im Angesicht einer Risiko-Situation.

  • Risikoaversion oder Risikoscheu bezeichnet die Eigenschaft eines Entscheiders, bei der Wahl zwischen mehreren Alternativen mit gleichem Erwartungswert (= Eintrittswahrscheinlichkeit x Nutzenhöhe) die Alternative mit dem geringsten Risiko bezüglich des Ergebnisses – und damit auch dem geringstmöglichen Verlust – zu bevorzugen. Risikoscheue Entscheider bevorzugen also einen möglichst sicheren Gewinn, auch wenn dieser klein ausfällt.
  • Risikoneutralität bedeutet, dass ein Entscheider bezüglich des Risikos indifferent ist, das heißt seine Entscheidung allein anhand des Erwartungswertes trifft und das dabei evtl. auftretende Risiko nicht mit in seine Entscheidung einbezieht.
  • Risikoaffinität, Risikosympathie oder Risikofreude bezeichnet die Eigenschaft eines Entscheiders, bei der Wahl zwischen mehreren Alternativen mit gleichem Erwartungswert die Alternative mit dem höchsten Risiko bezüglich des Ergebnisses – und damit auch dem höchstmöglichen Gewinn – zu bevorzugen. Risikofreudige Entscheider bevorzugen also einen möglichst hohen Gewinn, auch wenn dieser unsicher ist.

Sicherheit

Entscheidungssituation, in der der Entscheider annimmt, das Ergebnis einer Aktion sicher vorhersagen zu können.

Resilienz und Robustheit versus Risiko und Sicherheit

Resilienz und Robustheit dokumentieren eine ganzheitliche Sicht (neues Paradigma), bei der  kognitive Fähigkeiten des Menschen und seine Adaptionsfähigkeit im Vordergrund stehen, während Risiko und Sicherheit eine materialistische Sicht (altes Paradigma) hervorheben, bei der funktionale Eigenschaften von Menschen und Maschinen in den Vordergrund rücken.

Der Weg von Risiko und Sicherheit hin zu der neuen Begriffswelt von Resilienz und Robustheit kann als Paradigmenwechsel aufgefasst werden.

3.1 Zentrale Begriffe, Theorien und Prinzipien im Überblick

Ergänzend zu den vorgenannten Begriffen, Theorien und Prinzipien, und den daraus abgeleiteten Entscheidungen, ermöglicht die folgende tabellarische Zusammenstellung einen zusammenfassenden Überblick.

3.2 Paradigmenwechsel als Erkenntnisprozess und Problemlösung

Als eine der wichtigsten Bestrebungen des Menschen wird die „Erkenntnis“ angesehen, d.h. das Aufspüren von Konflikten (Problemen) zwischen Wirklichkeit und Realität sowie deren Behebung durch Anpassen der (subjektiven) Wirklichkeit an die (eigentlich nur begrenzt erkennbare) Realität. Derartige Anpassungen der Wirklichkeit an die Realität („Realitätsanpassungen“), die in der Regel durch „Realitätsbegegnungen“ entstehen, können für die Psyche eines Einzelnen als auch für eine Gruppe zu sehr ernsten, teilweise fast unüberwindlichen Konflikten führen. Der Paradigmenwechsel, der häufig einen langwierigen Wandlungsprozess erfordert, ist das mühsame Ersetzen eines alten, durch eines der Realität besser angepasstes, neues Paradigma.

Der Erkenntnisprozess in fünf Phasen

Ansatz, Denken, Wandel, Konzept und Transformation können als Phasen eines Erkenntnisprozesses, zur Lösung gesellschaftlicher, unternehmerischer und institutioneller Probleme komplexer Art bei unsicheren Rahmenbedingungen, aufgefasst werden.

Die nachfolgende Tabelle verschafft einen zusammenfassenden Überblick der Prozessphasen.

4. Zusammenfassung und Ausblick

Die ganzheitliche Sichtweise des Lebensmodells ermöglicht es Kriterien eines neuen Paradigmas zu erfüllen; dies trifft auf die materialistische Sichtweise eines Geschäftsmodells nicht zu. Beide Sichtweisen (altes und neues Paradigma) sind als polar orientierte theoretische Konstrukte aufzufassen; reale Systeme in Gesellschaft, Unternehmen und Institutionen liegen demgegenüber in der Regel zwischen den Polen und können aus dieser (eigenen) Position mit den Polen verglichen werden.

Aus diesem Vergleich kann ein Konzept für die Zukunft (eine Vision), z.B. für ein Unternehmen, entstehen oder zumindest eine Entwicklungsrichtung vorgegeben werden.

Beim „Lebensmodell versus Geschäftsmodell“ werden Prozessphasen (Ansatz, Denken, Wandel, Konzept und Transformation) gegenübergestellt, um die Unterschiede zwischen den Modellen herauszustellen.

Der Paradigmenwechsel hat, wegen des philosophisch, kulturellen und wissenschaftlichen Ansatzes, unter Berücksichtigung des Standes der interdisziplinären Forschung, das Potential, Lösungsansätze für die eingangs aufgeführten Problemfelder zu liefern. Im Vorfeld gravierender gesellschaftlicher Veränderungen (die sich z.B. als Widerstand gegen die von Menschen gemachten Klimaveränderungen zeigen) sind zeitgerechte Problemlösungen, aus gesellschaftlichen Erkenntnissen heraus, verfügbar, die mit Hilfe kooperativer Intelligenz durchsetzbar werden können.

Dazu ein aktuelles Beispiel: „Die CDU zerstöre „unser Leben und unsere Zukunft“, behauptet YouTuber Rezo in einem meinungsstarken Video, das er wenige Tage vor der Europawahl in Umlauf gebracht hat. Rund 55 Minuten lang rechnet er dabei mit der Union und auch ihrem Koalitionspartner SPD ab.“. Die Verantwortlichkeiten beider Parteien für die Verzögerungen im Klimaschutz und der Gesetzgebung werden deutlich aufgezeigt und gebrandmarkt.

Die Meinung von Rezo und weiteren NewTubern hat sich als öffentliches Meinungsbild in kürzester Zeit durchgesetzt; wesentlich für die Durchsetzung war ein Faktencheck, der die Äußerungen von Rezo durch angeführte Forschungsergebnisse und Expertenäußerungen untermauerte (was dem überwiegenden Realitätsverständnis wissenschaftlicher Kreise entsprach). Argumentativ unterstützend wirkten auch die Fridays – for – Future – Bewegung für den Klimaschutz und deren Sympathisanten.

Das Beispiel verdeutlicht, dass – bei komplexen Problemstellungen – soziale Gruppen, die sich z.B. für den Klimaschutz einsetzen, und Prioritäten im eigenen Verhalten setzen (z.B. durch Demos in der Unterrichtszeit) sowie Verantwortlichkeiten klären (z.B. in der Politik), auf der Basis persönlich angeeigneter Erkenntnisse (aus kognitiven Fähigkeiten heraus) und durch Kommunikation in sozialen Netzwerken, eine kooperative Intelligenz entwickeln konnten, die sich als meinungsbildend durchsetzte hat und möglicherweise eine Änderung politischer Entscheidungen herbeiführen wird, die als  Paradigmenwechsel bezeichnet werden können.

Websites:

http://kochmgmt.com/paradigma

http://kochmgmt.com/paradigmenwechsel

http://kochmgmt.com/Lebens-Prozessmodell/

Werbung

Paradigmenwechsel

Abstract: Paradigmenwechsel in Zeiten des Wandels

In Zeiten des Wandels (nicht nur des digitalen) treten eine Vielzahl von Problemfeldern auf, die nach derzeitigem Verständnis einer ganzheitlichen (integrativen) Lösung zugeführt werden sollten. Als Ausgangspunkt des Lösungsmodells wird ein philosophischer, kultureller und wissenschaftlicher Ansatz ausgewählt, der einen Paradigmenwechsel auslösen soll, und interdisziplinäre Erkenntnisse, die dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen, zu berücksichtigen versucht. Dieser Ansatz kann als erste von fünf Phasen eines Lösungsmodells für Problemfelder in Gesellschaften, Unternehmen und Institutionen herangezogen werden, die sich nicht nur am Mainstream orientieren, sondern evolutionäre Phänomene und revolutionäre Mechanismen miteinander verknüpfen, in deren Mittelpunkt in natürlicher Weise alle Akteure stehen, z.B. in einem Unternehmen; Geschäftsmodelle können in integrativer Weise im Lösungsmodell berücksichtigt werden, sollten aber keinen alleinigen Lösungsanspruch haben, da ihnen häufig die ganzheitliche Natur fehlt.

Der Paradigmenwechsel kann auch einen weitgefassten Begriff der Qualität abdecken, in dem Qualitätsansatz, Qualitätsdenken, Qualitätswandel, Qualitätskonzept (-strategie) und die Transformation der Qualität berücksichtigt werden.

Wegen des grundlegenden und umfänglichen Charakters der Aufgaben sollten sich auf Projektbasis auch Unternehmen, Institutionen und Verbände beteiligen. Insofern stellt das Lösungsmodell derzeit nur eine Konstruktion dar, die ein nahezu unbegrenztes Lösungspotential erfasst, ganz im Sinne von Pragmatismus und Vielfalt; es ist jedenfalls nicht die Suche nach der einzig richtigen Lösung, die für wenige Akteure zu einem Geschäftsmodell auf Kosten vieler werden könnte.